Innenminister Thomas Strobl (Bild) stellt den Verfassungsschutzbericht 2021 vor.
Die Alternative für Deutschland wird künftig vom baden-württembergischen Verfassungsschutz beobachtet, da sie unter dem Verdacht steht, rechtsextremistische Bestrebung zu verfolgen.
„Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg wird den Landesverband der Alternative für Deutschland in Baden-Württemberg fortan beobachten. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg bearbeitet den AfD-Landesverband im Phänomenbereich Rechtsextremismus nun als Beobachtungsobjekt – als Verdachtsfall. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte vor, die den Verdacht begründen, dass die AfD eine rechtsextremistische Bestrebung ist, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet“, gab der Stv. Ministerpräsident und Innenminister Thomas Strobl bekannt.
Bundesentscheidung zur AfD-Einschätzung wegweisend
„Hintergrund dieser Entscheidung des Landesamts für Verfassungsschutz ist die gerichtlich bestätigte Erhebung der Gesamtpartei der AfD zum Beobachtungsobjekt durch das Bundesamt für Verfassungsschutz im März 2021. Diese hat auch Auswirkungen auf die Arbeit des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg: Denn der baden-württembergische AfD-Landesverband kann nicht isoliert vom Bundesverband der Partei betrachtet werden“, erklärte Beate Bube, Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz Baden-Württemberg.
Maßgeblich für die Erhebung und deren Bestätigung durch das Verwaltungsgericht Köln waren der Einfluss des formal aufgelösten „Flügels“ sowie der „Jungen Alternative“ auf die Partei. Unter anderem der dort vertretene ethnisch homogene Volksbegriff steht im Widerspruch zu zentralen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Diese Anhaltspunkte kommen auch bei der Einschätzung des Landesverbands der AfD in Baden-Württemberg zum Tragen.
AfD-Landesverband nicht isoliert betrachten
„Nach eingehender Prüfung ergibt sich vor dem Hintergrund der Bewertung des Bundesamtes, der bestätigenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln und unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungslinien auf Bundes- und Landesebene eine entsprechende Einschätzung für Baden-Württemberg“, so Minister Thomas Strobl. Berücksichtigt wurden zum Beispiel Inhalte des Wahlprogramms, Positionen und Äußerungen von Führungspersonen sowie personelle Entwicklungen. Das Ergebnis: Die extremistischen Kräfte innerhalb der AfD Baden-Württemberg – auch wenn sie sich bisher nicht mehrheitlich durchsetzen konnten – stoßen auf nennenswerte Unterstützung im Landesverband und sind zum Teil prägend für das Bild, das der Landesverband nach außen hin abgibt. Mit der Einstufung als Beobachtungsobjekt darf der Verfassungsschutz nachrichtendienstliche Mittel einsetzen. Unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Informationen auch verdeckt beschafft und die dafür im Landesverfassungsschutzgesetz genannten nachrichtendienstlichen Mittel angewendet werden.
Bereits im März 2021 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Verfassungsschutzverbund mitgeteilt, dass es die Gesamtpartei AfD zum rechtsextremistischen Verdachtsfall erhoben hat. Aufgrund des sich anschließenden Gerichtsverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Köln hat das Bundesamt für Verfassungsschutz zunächst die Einstufung der AfD als Verdachtsfall bis zu einer Entscheidung des Gerichts ausgesetzt. Mit Urteil vom 8. März 2022 wies das Verwaltungsgericht Köln die Klage der AfD hinsichtlich ihrer Einstufung als Verdachtsfall ab.
Die Corona-Pandemie und das Protestgeschehen in diesem Zusammenhang haben den Verfassungsschutz im vergangenen Jahr stark gefordert.
„2021 war ein außergewöhnliches, ein herausforderndes Jahr – gerade auch mit Blick auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Corona-Pandemie und das Protestgeschehen in diesem Zusammenhang haben den Verfassungsschutz im vergangenen Jahr stark gefordert. Im Umfeld des Protestgeschehens wurde auf alte und neue Verschwörungsideologien Bezug genommen. Die überwiegende Anzahl dieser Verschwörungsideologien ist zumindest extremistisch beeinflusst: Oftmals transportieren sie antisemitische oder staatsfeindliche Narrative, teilweise auch in Kombination mit rassistischen oder geschichtsrevisionistischen Ansichten. Das Landesamt für Verfassungsschutz als Frühwarnsystem unserer Demokratie bleibt deshalb weiter wachsam“, sagte der Stv. Ministerpräsident und Innenminister Thomas Strobl. Gemeinsam mit der Präsidentin des Landesamts für Verfassungsschutz Beate Bube hatte er am in Stuttgart den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 vorgestellt.
Extremistische Verschwörungsideologien während Corona
„Hauptnarrativ der kursierenden extremistischen Verschwörungsideologien ist eine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit in Verbindung mit dem Gedanken des – angeblich legitimen – Widerstands gegen die herrschende Regierung. Als gemeinsamen Nenner schafft die Staatsfeindlichkeit sowohl Verbindungen zu Reichsbürgern und Selbstverwaltern als auch in den Rechtsextremismus, wo der Staat und die demokratische Ordnung ebenfalls abgelehnt werden. Die Gefährdung geht von neuen, zum Großteil auf Verschwörungsideologien basierenden Formen des Extremismus aus. Hierdurch gewinnt der in diesen Erzählungen oftmals enthaltene Antisemitismus auch in diesem Phänomenbereich eine hohe Bedeutung. „Vor diesem Hintergrund war es absolut richtig, dass wir im Verfassungsschutzverbund im letzten Jahr einen neuen Phänomenbereich unter der Bezeichnung ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘ eingerichtet und die länderübergreifende Zusammenarbeit in diesem Extremismusbereich verstärkt haben“, erklärte Innenminister Thomas Strobl.
Die relevanteste Gruppierung im Phänomenbereich war 2021 „Querdenken 711“ mit ihren baden-württembergischen Ablegern. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg war bundesweit die erste Verfassungsschutzbehörde, die „Querdenken“ am 9. Dezember 2020 zum Beobachtungsobjekt erhob. Das Landesamt für Verfassungsschutz geht derzeit von rund 350 Personen aus, die der Szene zuzurechnen sind. Die Kommunikation rund um das Protestgeschehen im Phänomenbereich findet seit Beginn der Corona-Pandemie überwiegend über Messenger-Dienste statt, unter denen „Telegram“ nach wie vor die dominante Rolle einnimmt. Extremisten nutzen diese Möglichkeit des Austauschs unter anderem, um sich zum Widerstand gegen staatliche Maßnahmen oder die staatliche Ordnung insgesamt zu organisieren.
Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass neben der Corona-Thematik zukünftig auch andere Themenfelder zur Verbreitung staatsfeindlicher Narrative im Phänomenbereich herangezogen werden. So hat der Verfassungsschutz bereits Erkenntnisse über Bezugnahmen auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die damit mittelbar zusammenhängenden Folgen, z. B. steigende Kraftstoffpreise. Langfristig können auch Themen wie der Klimawandel und mögliche staatliche Maßnahmen zur Verringerung der Erderwärmung von Extremisten instrumentalisiert werden, um die Anschlussfähigkeit an breitere Gesellschaftsschichten zu erhöhen.
Weiterhin hohe Gefährdung durch den Rechtsextremismus
„Der Rechtsterrorismus war nie weg, das zeigen schwere rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten der letzten Jahre – der Anschlag von Hanau im Februar 2020, der Anschlag von Halle (Saale) im Oktober 2019 und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 in Wolfhagen haben das deutlich gezeigt. Aber auch rechtsextremistisch motivierte Anschläge im Ausland, wie beispielsweise ganz aktuell der Anschlag vom Mai 2022 in Buffalo/New York, dürfen nicht aus dem Blick geraten. In einer globalisierten Welt, in der auch Rechtsextremisten sich weltweit virtuell vernetzen können, werden auch Anschläge in anderen Erdteilen zu Vorbildern für deutsche Nachahmer. Dabei liefern anonyme Chatgruppen und rechtsextremistische Influencer immer häufiger den digitalen Nährboden für eine ideologische Indoktrination und Radikalisierung“, warnte Minister Thomas Strobl. Zudem haben 2021 rechtsextremistische Einzelpersonen und Organisationen in Baden-Württemberg versucht, das Corona-Protestgeschehen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Hierbei trat insbesondere die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) in Erscheinung, die sich an verschiedenen Demonstrationen beteiligte, während die Partei „Der III. Weg“ vor allem Flugblattverteilungen durchführte.
Reichsbürger und Selbstverwalter
Dem Milieu der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ gehören aktuell rund 3.800 Personen in Baden-Württemberg an. Das Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sowie die in diesem Zusammenhang verbreiteten Verschwörungserzählungen führten zu einem starken Zulauf zum Milieu. Die Ablehnung der staatlichen Maßnahmen erfolgt anhand unterschiedlichster ideologischer Herleitungen, so auch mithilfe der pseudojuristischen Ansichten von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“. Die Anschlussfähigkeit hat sich hierdurch in den vergangenen beiden Jahren erhöht, was sich inzwischen spürbar im Gesamtpersonenpotenzial niederschlägt. Schätzungsweise zehn Prozent der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ befürworten den Einsatz von Gewalt. Analog zu Rechtsextremisten hat das Milieu zudem eine hohe Affinität zu Schusswaffen. „Deshalb hat der Verfassungsschutz die Internetaufklärung intensiviert und konnte so auch das Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter weiter aufklären“, so Minister Thomas Strobl.
Linksextremismus – deutliche Zunahme der Straftaten
„Bei den linksextremistischen Straftaten war 2021 mit 659 Fällen eine deutliche Zunahme festzustellen; 2020 waren es noch 455 Fälle. Das führen wir auf eine erhöhte Agitation linksextremistischer Akteure im Zusammenhang mit der baden-württembergischen Landtagswahl und der Bundestagswahl im Jahr 2021 zurück. Auch die Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten ist im Jahr 2021 mit insgesamt 62 Vorfällen im Vergleich zum Vorjahr – 59 Fälle – angestiegen“, führte Innenminister Thomas Strobl aus. Die gewaltorientierte linksextremistische Szene initiierte in Baden-Württemberg die Kampagne „antifascist action! – Gegen rechte Krisenlösungen“. Dabei wurde dazu aufgerufen, Flyer-, Plakat-, und Transparentaktionen vor allem zum Nachteil der AfD durchzuführen. Außerdem sollten entsprechende Wahlplakate zerstört und der Wahlkampf an Wahlkampfständen gestört werden. Die Kampagne entwickelte in kürzester Zeit eine große Dynamik und bereits wenige Wochen nach deren Start hatten sich auch Gruppen aus anderen Bundesländern angeschlossen, wie etwa aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern.
Islamistischen Extremismus weiterhin hohe Bedrohung
„Die vom islamistischen Terrorismus ausgehende Gefährdung ist weiterhin als hoch einzustufen. Allgemein befürwortet und legitimiert der islamistische Terrorismus – oder Jihadismus – die Anwendung von Gewalt zur Verbreitung und Durchsetzung der islamischen Glaubens- und Gesellschaftsordnung“, betonte Minister Thomas Strobl. Jihadistische Propaganda wurde in Form von Texten und Videos größtenteils über das Internet in zahlreichen Sprachen verbreitet. So hat beispielsweise der sogenannte „Islamischen Staat“ weltweit zu Attentaten aufgerufen. Neben jihadistisch organisierten Strukturen – terroristischen Vereinigungen – stellen vor allem jihadistisch motivierte Einzelpersonen ein Gefahrpotential dar. Das islamistische Personenpotential lag im Berichtszeitraum in Baden-Württemberg insgesamt bei 4.230 Personen und ist seit 2019 relativ konstant geblieben. Das stärkste Personenpotential hieraus entstammt mit 2.260 Personen der legalistisch islamistischen „Milli Görus“-Bewegung und mit 1.350 Personen dem salafistischen Spektrum.
Auslandsbezogener Extremismus
Das Personenpotenzial im auslandsbezogenen Extremismus hat sich im Vergleich zum Vorjahr leicht erhöht. Insbesondere eine verbesserte Erkenntnislage im Zusammenhang mit der PKK hat zu einer Steigerung des Personenpotentials auf 4.640 geführt; im Jahr 2020 waren es 4.525 bekannte Personen. Auch im türkischen Linksextremismus wurden Anpassungen vorgenommen. Die Intensität der Aktivitäten in diesem Spektrum hat auf ein gesteigertes Personenpotenzial schließen lassen. Die Fallzahlen im Bereich der Politisch Motivierten Kriminalität – ausländische Ideologie waren 2021 wie im Vorjahr rückläufig, wenn auch im geringeren Maße. Dies gilt jedoch nicht für die Gewaltdelikte, deren Anzahl sich erhöht hat. Bei den meisten Straftaten handelte es sich um Sachbeschädigungen, Beleidigungen und Verstöße gegen das Vereinsgesetz, vorwiegend im Zusammenhang mit dem türkisch-kurdischen Konflikt.
Baden-Württemberg ist Ziel ausländischer Nachrichtendienste
„Die Aktivitäten fremder Nachrichtendienste waren auch 2021 auf einem hohen Niveau. Baden-Württemberg ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung nach wie vor im Fokus fremder Nachrichtendienste. Aktuell ist klar erkennbar, dass Russland nach dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine seine Einflussnahmeaktivitäten verschärft und insbesondere die bekannten Narrative verbreitet: Täter-Opfer-Umkehr, Bedrohung Russlands durch die Ukraine und den Westen, Herabwürdigung und Verächtlichmachung des Gegners und gezielte Falschmeldungen zur Legitimierung des eigenen Vorgehens“, sagte Minister Thomas Strobl. Insbesondere die jeweilige Community soll durch solche Kampagnen gezielt instrumentalisiert werden und etwa zu Solidarisierungen, Mobilisierungen oder Auseinandersetzungen zwischen den die jeweilige Seite unterstützenden Lagern bewegt werden.
Aufgrund der oft hohen Reichweite gerade bei der Nutzung sozialer Netzwerke können Desinformationskampagnen auch darüber hinaus zu Verunsicherung führen, Vorurteile hervorrufen oder verstärken und so gesellschaftliche Konflikte vertiefen.
Quelle: Pressemeldungen IM BW Foto: Laurence Chaperon / CDU BW